Das Mädchen mit dem Fingerhut von Michael Köhlmeier erzählt eine Geschichte von Menschen ohne Herkunft, mit sachlicher, zum Teil recht nüchterner Sprache. Die Hauptfigur bleibt nicht nur namenlos, sondern auch ein wenig schicksalhaft für so viele Fremde, die im Grunde nur das gleiche wollen wie wir alle, Wärme und Geborgenheit.
Das Mädchen mit dem Fingerhut erzählt von einem Leben am Rande und von der kindlichen Kraft des Überlebens. Es ist ein Roman, der einen berührt. Für mich ist die Erzählung von Köhlmeier fast etwas wie eine moderne Deutung des Märchens Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern. Das namenlose Mädchen wird von vielen übersehen, nur nicht von ihresgleichen. Aber sie alle irren auf der Suche nach Wärme und Nahrung durch die finstere Stadt.
Auch, oder gerade weil keine extreme Situation auftaucht, sondern Begegnungen, wie wir sie selbst nicht haben, aber für so ein Mädchen Alltag sein dürften, berührt diese Erzählung so, sie ist einfach so realitätsnah. Dabei ist es jetzt kein harscher Kommentar zur Lage von Kindern, die alleine in einem fremden Land sind.
Zu Beginn schreckt die Sprache etwas ab. Sie wirkt fast ein wenig so, als hätte der Autor eine Distanz benötigt zu seiner Figur, aber diese nüchterne, zum Teil abgehackte Sprache sorgt auch dafür, dass die Erzählung nicht wie eine sentimentale Kitscherzählung rüberkommt. Beim Lesen wird einem durchaus das Herz schwer und bei einem Blick auf die Straßen unserer Städte fragt man sich unwillkürlich wie viele Kinder mit diesem Schicksal durch unsere Straßen laufen.
Das Mädchen mit dem Fingerhut handelt in irgendeiner großen Stadt in Westeuropa. Ein kleines Mädchen kommt auf den Markt, hat Hunger. Sie versteht kein Wort der Sprache, die man hier spricht. Doch wenn jemand „Polizei“ sagt, beginnt sie zu schreien. Woher sie kommt? Warum sie hier ist? Wie sie heißt? Sie weiß es nicht. Yiza, sagt sie, also heißt sie von nun an Yiza. Als Yiza zwei Jungen trifft, die genauso alleine sind wie sie, tut sie sich mit ihnen zusammen. Sie kommen ins Heim und fliehen, sie brechen in ein leeres Haus ein, aber sie werden entdeckt.
Michael Köhlmeier, 1949 in Hard am Bodensee geboren, studierte Politikwissenschaft und Germanistik in Marburg an der Lahn und Mathematik und Philosophie in Gießen. Seit Anfang der 1980er Jahre ist ein umfangreiches Romanwerk entstanden, neben einer Vielzahl von kürzeren Texten und feuilletonistischen Beiträgen. Michael Köhlmeier wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk.
Der Carl Hanser Verlag wurde 1928 in München-Bogenhausen von Carl Hanser gründete und vereinte zwei ganz unterschiedliche Verlagsteile unter einem Dach, einen Literaturverlag und Fachverlag für Zeitschriften und Bücher. Seit den sechziger Jahren entstand ein ebenso aktuelles wie fundiertes Sachbuchprogramm, mit Schwerpunkt auf den Geistes- und Sozialwissenschaften. Auch die Bedeutung der deutschsprachigen Literatur bei Hanser ist im Laufe der Jahre stark gewachsen.
Fotos: © Peter-Andreas Hassiepen / Carl Hanser Verlag
Das Buch Das Mädchen mit dem Fingerhut von Michael Köhlmeier ist seit Februar 2016 beim Carl Hanser Verlag als Hardcover und E-Book verfügbar.