Was passiert mit Fakten in einem kreativen Essay? John D’Agata und Jim Fingal gehen in „Das kurze Leben der Fakten“ ihrer fast kriegerischen Auseinandersetzug dieser Frage nach: ist es wichtiger in allen Punkten die Wahrheit zu sagen oder eher, eine Wahrheit ästhetisch in Worte zu verpacken und die Fakten dabei notfalls kreativ umzuschreiben?
John D’Agata schreibt ein Essay über den Selbstmord eines 16jährigen in Las Vegas. Der Junge hat sich vom Dach eines Hotels in den Tod gestürzt, und D’Agata versucht diesen Punkt als Ausgang für eine breitere Analyse von Jugendselbstmorden in Nevada bzw. USA herzunehmen. Der Verlag stellt Jim Fingal ab, das Essay auf Faktenrichtigkeit zu prüfen. Somit beginnt der Glaubenskrieg.
Was als höfliches Hinweisen auf wackelige Fakten und großzügige Auslegungen der Augenscheinlichkeiten beginnt, wird, je weiter das Buch fortschreitet zu einem immer raueren Austausch von Feindseligkeiten. Die beiden Kontrahenten bestehen wie einbetoniert auf ihrem jeweiligen Standpunkt, sei es auch nur die Dauer eines Falls vom Dach – dauerte dieser nun 9 oder 6 Sekunden?
Das Buch spiegelt den Zwiespalt wieder: das Essay ist, wie bereits auf dem Cover sichtbar, in seiner Gesamtheit inklusive der in rot eingefügten Korrekturen und Anmerkungen abgebildet. Dies bläht ein 20-seitiges Essay auf Romanlänge auf, und man liest zwischen den Zeilen weniger über den tragischen Todesfall und viel mehr über die Juxtaposition der reinen Wahrheit und deren kreativer Auslegung. Schließlich muss man sich als Leser entscheiden, welcher Seite des Konflikts man den Vorzug geben würde und verbleibt mit dem Fazit, dass man nicht unbedingt alles zu 100 Prozent glauben kann, was schwarz (oder rot) auf weiß gedruckt steht.
Hier ist auch etwas, das mir am Buch eigentlich misfallen hat: das Ganze wird vor dem Hintergrund eines Suizids ausgetragen, und sogar wenn man über die Scharmützel lachen muss, bleibt das ernste Thema bestehen. Zusätzlich dazu hat es sich der Lektor der deutschen Ausgabe nicht nehmen lassen, zum Buch einen ziemlich langen und eher langweiligen Aufsatz zu schreiben, in dem er seine Interpretation des Buchs zum Besten gibt. Man kommt sich als lesendes Publikum ein bisschen bevormundet vor. Meine Empfehlung: Buch lesen, Aufsatz ignorieren.
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- unterhaltsam
- wirft wichtige philosophische Fragen auf
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- zweifelhafte Themenauswahl
- Erklärbär-Aufsatz am Ende
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